MAG 56: Lunea

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44 Auf dem Nachhauseweg

Zu dieser schon vorgerückten Stunde, als Frau Mani nach der Vorstellung ihre Freun­ din zum Hauptbahnhof begleitet, wirkt die Bahnhofstrasse wie ausgestorben. «Grandios!», «schier überwältigend!», überschlagen sich die beiden Frauen in ihrem Lob – obwohl sie von dieser Aufführung des Fliegenden Holländers nichts anderes erwartet hatten, schliesslich waren sie doch bereits bei der Premiere vor fünf Jahren dabei. Aber dieses Lodern der Stimmen auf dem tiefen Grund, die sich an­ sammelnde, aufstauende Gewalt, die nervösen Streicher und dann der dröhnende Ausbruch der Baritonstimmen: Frau Mani zieht das den Boden unter den Füssen weg. Man wird schier seekrank, denkt sie, und ist dann um so mehr wieder gestärkt… Man ist Naturgewalt und deren Opfer zugleich! Bei Frau Mani untergehakt, fächert sich die Freundin mit der freien Hand Luft zu. Sie schwärmt von Bryn Terfels Stimme, die soviel Sehnsucht und dabei eine mas­ si­ve Bedrohung ausdrücken kann: Ein Erdbeben habe er ausgelöst! Ihr kam es so vor, als würde er das Opernhaus sprengen wie einen Pappkarton. Frau Mani nickt stolz, als wäre sie, die Zürcherin, eigentliche Gastgeberin des Abends gewesen, Opernhausdirektorin und Regisseurin in einem. Sie liefert ihrer Freundin weitere Stichworte: So warm sei Terfels Stimme gewesen, und auch so un­ heimlich in der makellosen Diktion, und jedes Mal, wenn er die Stimme gesenkt habe, so weit nach unten, und einen Ton im Abgrund hat erklingen lassen, sei es ihr schwind­ lig geworden – wie auf einem Schiff! Vom See her weht ein scharfer Wind durch die leere Bahnhofstrasse. Das Licht der Strassenlampen flackert und lässt die Gebäude wie Segelboote auf dem Wasser schwanken. Die beiden Freundinnen treiben in der breiten Strasse. Weit und breit keine Menschenseele, hier und da brennt in einem leeren Depot noch Licht. Die Schritte der beiden Frauen verhallen zwischen den hohen Fassaden. Fast ist Frau Mani unheimlich zumute, und sie stimmt den beschwingten Festgesang der Seeleute an, in den ihre Freundin einstimmt: «Steuermann, lass’ die Wacht! / Steuermann, her zu uns! / Ho! He! Je! Ho! / Hisst die Segel auf! Anker fest! / Steuermann, her!» Ein Quietschen, und am Paradeplatz vorbei zieht ein gespenstisch anmutendes Tram, die wenigen Passagiere mit gesenkten Köpfen, ein blassblaues Leuchten im Gesicht. Wie lustig es ist, so zu singen, sagen die Frauen einander, lachen rhythmisch, ein Chorlachen, und singen weiter, versuchen dabei zu ignorieren, dass ihnen ab Paradeplatz nun also ein Mann gefolgt ist, nur wenige Schritte entfernt. Er ist nicht gross, wirkt aber breit, vielleicht wegen dem offenen Mantel, und er hält die linke Faust gereckt, woraus aromatischer weisser Rauch aufsteigt. Auf der Höhe der Pavillon-­ Skulptur von Max Bill dreht sich Frau Mani um, und fast stösst sie mit dem fremden Mann zusammen. «Sie haben uns so erschreckt!», sagt sie mit gespielter Fröhlichkeit. Der Mann verbeugt sich protokollarisch. Als er sich wieder aufrichtet, meint ihn Frau Mani an der dicken Hornbrille, auf der sich das spärliche Licht der Strassenlaternen spiegelt, erkannt zu haben. Der Mann gesellt sich ihnen zu – die Bahnhofstrasse sei doch so verlassen in der Nacht, nur leere Geschäfte und beleuchtete Schaufenster. Er scheint von altem Schrot und Korn, sagt, dass er die Bühne mag, redet langsam und bedacht über die Menschen und ihre Moral und pafft ab und zu mit seiner Pfeife. Die beiden Frauen hören ihm zu, sie nicken, alles ergibt einen Sinn. Vor dem Bahnhof bleibt die Ampel eine halbe Ewigkeit auf Rot. Als sie sich von dem Mann verabschieden wollen, ist er schon weg. Dana Grigorcea

Illustration: Anita Allemann

Steuermann, lass’ die Wacht!


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